Ekkehart Voigts Solotheater-Aufführung von Goethes anspruchsvollem Drama macht es möglich, dass Schülerinnen und Schüler unserer Studienstufe Theatererfahrung sammeln dürfen. In Zeiten der Pandemie keine Selbstverständlichkeit. Voigt spielt nicht nur alle wichtigen Rollen der Tragödie selbst, er baut zudem eine Rahmenhandlung um sie herum, die sein Publikum zu Anwärterinnen und Anwärtern einer Schule für Höhere Teufelei werden lässt. Hier steht der „Faust“ auf dem Lehrplan, um in die Kunst der Menschenführung einzuführen. Zurückversetzt in die Rolle von Aspiranten unserer Schule, übten sich unsere Schülerinnen und Schüler in der anspruchsvollen Schreibform der Theaterkritik. In ihren Texten, aus denen wir hier zitieren, stechen die Themen freier Wille, Manipulation und Frauenbild heraus. Das sind Anzeichen einer nachhaltigen Theatererfahrung.
„In Astrid Lämmleins Inszenierung von Goethes ‚Faust’ schlüpft Schauspieler Ekkehart Voigt in alle Figuren des Dramas. Nicht nur das, Voigt bezieht während der Aufführung sein Publikum mit ins Spiel ein. Und obwohl jeder Mensch einen freien Willen hat, folgt es den Aufforderungen des Schauspielers bereitwillig. Warum ist das so? Diese Frage macht auch die Inszenierung zum Thema, wenn sie die Entscheidungsspielräume von Faust und Gretchen beleuchtet.“
„In der Inszenierung werden die weiblichen Figuren (Gretchen und Marthe) herabwürdigend dargestellt. Voigt verstellt seine Stimme, indem er ganz hoch spricht. Gretchen und Marthe werden so ins Lächerliche gezogen. Dies wird durch die extreme Körperhaltung von Voigt zu den einzelnen Figuren unterstützt, wobei Gretchen eher naiv beziehungsweise leichtgläubig wirkt. Und Marthe wird von der Art, wie Voigt sie spielt, leicht dümmlich dargestellt. Daraus resultiert zum Beispiel, dass die Entwicklung von Gretchen verloren geht, welche in Goethes Dramentext aber erkennbar ist.“
„Die Lämmlein-Inszenierung von Goethes ‚Faust‘ macht Folgendes deutlich: Man denkt, keine Wahl zu haben, wenn eine autoritäre Person von einem etwas verlangt. Woran man das merkt? Schauspieler Voigt bezieht das Publikum mit in die Inszenierung ein und gibt den Schülern in der Erwartung verschiedene Aufgaben, dass sie diese erfüllen. […] Aber es ist doch so: Man hat immer die Wahl, ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ zu sagen. Egal, wo man sich befindet oder worum es geht.“
„In der Darstellung von Voigt wird Gretchen (Margarete) herabgewürdigt. Er stellt sie mit einer hohen Stimme dar. Die Körperhaltung, die er einnimmt, wenn er sie spielt, suggeriert uns einen sehr weiblich anmutenden Körper und auch einen sehr kindlichen und unschuldigen Charakter. Durch diese Wirkung wird sie auf ein klischeehaftes Frauenbild reduziert, welches das ganze Stück über durchgezogen wird. Dadurch geht ihre Entwicklung, die aus dem Drama ersichtlich wird, verloren.“
„Die Darstellung des Mephisto wurde der eines Teufels gerecht. Herr Voigt hat die charakteristischen Aspekte des Mephistos am besten zur Schau gestellt. […] Faust konnte man anmerken, dass er von Mephisto regelrecht benommen war, so diabolisch wie Voigt ihn gab.“
„Man hat als Mensch immer die Wahl, ob man nun eine Tat vollzieht oder sich dieser entzieht. Genauso, wie Faust die Wahl hatte, sich auf den Pakt einzulassen oder sich diesem Pakt zu entziehen, hatte auch Gretchen die Wahl, sich mit Faust abzugeben oder sich von ihm fernzuhalten. Diese Lesart wird auch durch den Einbezug des Publikums deutlich. Voigt betont im anschließenden Publikumsgespräch die tagtäglichen Wahlmöglichkeiten von uns allen: Jeder Mensch habe die Möglichkeit, jeden Tag aufs Neue seinen Tag neu zu gestalten, um ein anderer Mensch zu werden.“
„Man könnte zu dem Schluss kommen, dass die Frauenfiguren in der Inszenierung herabgewürdigt und ins Lächerliche gezogen werden. Dies wird daran deutlich, dass die Frauen von Voigt mit einer beabsichtigt hohen, piepsigen Stimme sowie mit einer übertrieben femininen, stereotypischen Haltung gespielt wurden. Außerdem wurde die Figur Gretchen übertrieben naiv und unschuldig dargestellt. Im Unterricht sind wir jedoch zu der Erkenntnis gelangt, dass Gretchen sogar eine schnellere positive Entwicklung im Stück durchmacht als Faust. Zusätzlich scheint sie den Teufel in Mephisto durch Intuition zu spüren und sich am Ende von den teuflischen Verführungen abzuwenden, um sich Gott zuzuwenden. Voigt begründet seine Auslegung in der Nachbesprechung damit, dass er das Frauenbild Goethes widerspiegeln wolle.“